Dentosophie und ADHS: Wie Atmen, Kauen und Schlucken die Konzentration beeinflussen
ADHS im Aufwind – und ein übersehener Schlüssel
Die Diagnose ADHS ist in den letzten Jahrzehnten sprunghaft angestiegen. Immer mehr Kinder – und zunehmend auch Erwachsene – erhalten diese Etikettierung, oft verbunden mit medikamentöser Behandlung, Verhaltenstherapie und einer gewissen Hilflosigkeit. Die gängigen Erklärungsansätze fokussieren sich dabei meist auf neuronale Funktionsstörungen, genetische Dispositionen oder psychosoziale Faktoren. Doch was, wenn ein bislang kaum beachteter Bereich eine Schlüsselrolle spielt? Was, wenn die Art und Weise, wie wir atmen, schlucken und kauen, einen erheblichen Einfluss auf unsere Konzentration und Regulation hat? Genau hier setzt die Dentosophie an.
Dentosophie: Funktionelle orale Regulation mit Systemwirkung
Die Dentosophie ist eine sanfte Methode der funktionellen oralen Regulation, die über das Wiedererlernen physiologischer Grundfunktionen wie Nasenatmung, korrektes Schlucken und zentrales Kauen tiefgreifende Veränderungen im gesamten Organismus bewirken kann. Ihr Ansatz ist interdisziplinär, körperorientiert und dabei überraschend wirksam – insbesondere im Kontext von Konzentrationsstörungen und ADHS.
Mundatmung: Der blinde Fleck in der ADHS-Diagnostik
Ein zentraler Aspekt, der in der konventionellen Diagnostik oft übersehen wird, ist die Mundatmung. Viele Kinder, die mit ADHS-Symptomen vorgestellt werden, atmen chronisch durch den Mund – sei es aufgrund vergrößerter Rachenmandeln, allergischer Beschwerden oder einfach schlechter Gewohnheiten. Diese scheinbar harmlose Umgehung der Nasenatmung hat jedoch weitreichende Folgen: Sie aktiviert das sympathische Nervensystem, reduziert die Schlafqualität und stört die Sauerstoffversorgung des Gehirns. Statt zu entspannen, bleibt der Organismus in einem Zustand latenter Alarmbereitschaft – das Kind wirkt unruhig, impulsiv, überdreht.
Sympathikus-Übersteuerung: Warum Konzentration dann kippt
Die Rolle des Sympathikus ist in diesem Zusammenhang entscheidend. Als Teil des vegetativen Nervensystems ist er für die Aktivierung von Stressreaktionen zuständig: Herzfrequenz und Atemrate steigen, die Muskulatur spannt sich an, das Gehirn fokussiert auf Gefahr. Diese Reaktion ist evolutionär sinnvoll – aber nicht für den Alltag eines (Grundschul)Kindes. Bei chronischer Aktivierung kommt es zur Überforderung der präfrontalen Hirnrinde, also jener Gehirnregion, die für Impulskontrolle, Planung und Konzentration verantwortlich ist. Kinder mit permanenter Sympathikusaktivierung sind also nicht einfach „unaufmerksam“ – ihr Nervensystem ist schlichtweg überlastet.
Nasenatmung: Parasympathikus, NO und bessere Kognition
Die Lösung liegt auf der Hand – oder besser gesagt: in der Nase. Nasenatmung aktiviert den Parasympathikus, jenen Teil des Nervensystems, der für Regeneration, Ruhe und Konzentration zuständig ist. Zudem produziert die Nasenschleimhaut Stickstoffmonoxid (NO), ein Molekül mit gefäßerweiternder und durchblutungsfördernder Wirkung, das die Sauerstoffversorgung des Gehirns verbessert. Studien zeigen, dass Kinder, die durch die Nase atmen, besser schlafen, ausgeglichener sind und höhere kognitive Leistungen zeigen.
Schlucken: Mechanik für venösen und glymphatischen Abfluss
Ein weiterer zentraler Aspekt in diesem Zusammenhang ist das korrekte Schlucken. Über die koordinierte Aktivität von Zunge, Gaumen und Mundboden wird nicht nur der Nahrungsbolus transportiert – auch der venöse und lymphatische Rückfluss aus dem Kopfbereich wird dadurch gefördert. Insbesondere der sogenannte glymphatische Abfluss, also der nächtliche Reinigungsmechanismus des Gehirns, profitiert von einer physiologischen Schluckfunktion. Studien zeigen, dass über die regelmäßige, kräftige Schluckbewegung ein mechanischer Sogeffekt auf die venösen Sinus und das Lymphsystem im Kopfbereich entstehen kann. Gerade bei Kindern mit neurologischer Reizüberflutung – wie sie häufig bei ADHS zu beobachten ist – kann diese verbesserte Drainage eine entlastende und regulierende Wirkung auf das zentrale Nervensystem entfalten. Somit ist korrektes Schlucken weit mehr als ein oraler Reflex – es ist ein neurophysiologischer Beitrag zur Selbstregulation und Gehirngesundheit.
Kauen: Mehr Durchblutung, Präfrontalaktivität und Aufmerksamkeit
Ein weiterer, oft unterschätzter Aspekt ist das Kauen. Wer regelmäßig und intensiv kaut – etwa bei rohem Gemüse, Fleisch oder Vollkornbrot – aktiviert darüber nicht nur die Kaumuskulatur, sondern auch das zentrale Nervensystem. Studien belegen, dass aktives Kauen die Durchblutung im Gehirn signifikant erhöht, insbesondere im präfrontalen Cortex. Dieser Bereich ist bei Menschen mit ADHS häufig unteraktiviert. Hirano et al. zeigten bereits 2008, dass Kaugummikauen die Aufmerksamkeitsspanne erhöht. Andere Studien sprechen von bis zu 40 % mehr zerebraler Durchblutung beim Kauen harter Nahrung. Auch das Arbeitsgedächtnis, die Reaktionszeit und die allgemeine Wachsamkeit profitieren nachweislich.
Zentrales Kauen trainieren: Übungen und Balancer
In der Dentosophie wird das Kauen nicht dem Zufall überlassen. Mit Hilfe eines speziellen Geräts – dem Balancer – sowie gezielter Übungen wird das zentrale Kauen (beidseitig, rhythmisch, symmetrisch) trainiert. Der Balancer stimuliert dabei nicht nur die Kaumuskulatur, sondern auch das neuronale Netzwerk, das mit Atmung, Schlucken und Haltung in Verbindung steht. Ziel ist die Wiederherstellung eines natürlichen Funktionsmusters – nicht durch Zwang, sondern durch sanfte Reorganisation. Dabei wird auch die Zungenruhelage korrigiert, was die nasale Atmung begünstigt und langfristig stabilisiert.
Evidenzlage: ADHS und orofaziale Dysfunktionen
Die Verbindung zwischen ADHS und orofazialen Dysfunktionen ist mittlerweile auch wissenschaftlich gut dokumentiert. Eine systematische Übersichtsarbeit von Abreu et al. (2020) zeigt, dass Kinder mit Mundatmung signifikant häufiger ADHS-ähnliche Symptome aufweisen. In einer brasilianischen Studie von Souki et al. wurde ein klarer Zusammenhang zwischen oralen Dysfunktionen und Verhaltensauffälligkeiten nachgewiesen. Guilleminault et al. konnten sogar belegen, dass sich ADHS-Symptome durch Verbesserung der Nasenatmung verringern lassen – unabhängig von medikamentöser Therapie.
Konsequenzen für den Praxisalltag
Was bedeutet das für den Praxisalltag? Für Zahnärzte, Logopäden, Osteopathen und andere Therapeut:innen ist es unerlässlich, Atemmuster und Kaumuster in die Befunderhebung zu integrieren – insbesondere bei Kindern mit Verhaltens- oder Lernproblemen. Statt Symptome zu bekämpfen, sollte die Regulation des Körpers in den Mittelpunkt rücken. Dabei ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit ein Schlüssel: Nur wenn Zahnmedizin, funktionelle Therapie und Pädagogik an einem Strang ziehen, kann nachhaltige Veränderung entstehen.
Quick-Check für Eltern – Beobachtungen mit großer Aussagekraft
Auch für Eltern lohnt sich ein genauer Blick: Schnarcht mein Kind? Schläft es mit offenem Mund? Kaut es hastig oder einseitig? Ist die Zunge immer unten oder oben am Gaumen? Solche Beobachtungen liefern wertvolle Hinweise – und oft auch erste Ansatzpunkte für Veränderung.
Perspektivwechsel: Regulation statt Etikett
Dentosophie versteht ADHS nicht als Defizit, sondern als Hinweis: Der Körper braucht Unterstützung bei der Selbstregulation. Und diese Regulation beginnt ganz basal – mit dem Atem, dem Kauen, dem Schlucken. Wenn Kinder lernen, ihre Grundfunktionen zu harmonisieren, verändert sich oft mehr als nur ihr Verhalten: Ihre ganze innere Haltung kommt zur Ruhe.
In einer Zeit, in der viele Kinder als „gestört“ oder „auffällig“ gelten, braucht es einen Perspektivwechsel. Vielleicht liegt die Lösung nicht in mehr Diagnosen, sondern in mehr funktionellem Verständnis. Die Dentosophie bietet genau das – und damit einen stillen, aber wirkungsvollen Beitrag zur Heilung.
Literatur (Auswahl)
Abreu et al. (2020). „Relationship between orofacial dysfunction and symptoms of attention deficit hyperactivity disorder in children: A systematic review.“
Guilleminault, C. et al. (2012). „Attention-deficit/hyperactivity disorder with obstructive sleep apnea: A treatment strategy.“
McKeown, P. (2021). The Oxygen Advantage.
Hirano, Y. et al. (2008). „Chewing and attention: a positive effect on sustained attention.“
Smith, A. (2010). „Effects of chewing gum on cognitive function, mood and physiology in stressed and non-stressed volunteers.“
Onozuka, M. et al. (2002). „Effects of chewing on cognitive processing.“
Fukushima-Nakayama, Y. et al. (2017). „Chronic reduction of masticatory stimuli affects hippocampal morphology and function in mice.“